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Herbststräume - Der Rugbyspieler: Elea und Wulfgar

An einer Fußgängerampel trifft Elea auf Wulfgar. Ein zufälliges Zusammentreffen, das auf den ersten Blick vollkommen unbedeutend ist. Aber dann holt die Vergangenheit Elea ein und eine Welle von Ereignissen setzt sich in Gang, die nicht nur dazu führt, dass Elea Klarheit über ihre Vergangenheit gewinnt, sondern auch ihre zweite Liebe findet.

Herbstträume : Romantische Herbstgeschichten

Der Rugbyspieler

Elea stand am Straßenrand und wartete darauf, dass die Fußgängerampel endlich auf Grün schaltete, damit sie die Straße überqueren konnte. Ohne die Ampel war das Überqueren der Straße an der vielbefahrenen Kreuzung lebensgefährlich, also wartete Elea mit wachsender Ungeduld. Wer auch immer die Ampeln programmiert hatte, war anscheinend der Ansicht gewesen, dass man den Autofahrern in ihren gemütlichen, vor Wind und Wetter geschützten Autos keine längeren Wartezeiten zumuten konnte, wohl aber den Fußgängern, die sich in einer kleinen Menschentraube vor dem Fußgängerübergang drängten und missmutig in den Nieselregen starrten, der unaufhörlich vom Himmel fiel. Der Nieselregen war so fein, dass ein Regenschirm nichts nützte, ganz davon abgesehen, dass Elea auch gar keinen Regenschirm dabei hatte.
Mit wachsender Verärgerung starrte Elea das rote Ampelmännchen an und konnte spüren, wie das trübe Wetter langsam in sie hineinsickerte und sich zu einer Trostlosigkeit verdichtete, die ihr schwer auf der Seele lastete. Natürlich wusste sie, dass nicht nur das Wetter an ihrem aktuellen Stimmungstief Schuld war, aber mit Sicherheit machten es Nieselregen, grauer Beton und die Einsamkeit der Großstadt nicht besser.
Elea seufzte und fuhr sich mit der Hand über ihre Haare, die Nieselregen genauso wenig leiden konnten wie sie selbst und sich empört zu einer krisseligen, krausen Masse aufgebauscht hatten. Wie immer waren ihre Haare der Spiegel ihrer Stimmungen und Elea gab den halbherzigen Versuch auf, sie irgendwie in Form zu bringen, und ließ die Hand wieder sinken. Der Gedanke an ihre Haare hatte sie so sehr abgelenkt, dass sie das Umschalten der Ampel von Rot auf Grün nicht bemerkte und stehenblieb, als sich die Menschen um sie herum in einem Pulk fast synchron in Bewegung setzten, um es auf die andere Seite der Straße zu schaffen, bevor die Ampel wieder rot wurde.
Ein harter, schmerzhafter Stoß von hinten gegen ihre Beine riss Elea abrupt aus ihren Gedanken.
"He!" rief sie und drehte sich wütend um, um den Übeltäter zu stellen. Bei dem es sich um einen Mann handelte, der in einem ramponierten Rollstuhl saß.
"Entschuldigung, aber es ist grün."
"Ja und? Deshalb denken Sie, Sie können mit diesem Ding da in mich reinfahren, oder was?"
Immer noch wütend musterte Elea den Mann genauer.
"Beine haben Sie zwar keine, aber Augen haben Sie schon im Kopf, oder etwa nicht", fauchte sie und rieb sich die schmerzende Stelle an ihren Beinen. Was glaubte der Typ eigentlich? Bloß weil er im Rollstuhl saß, konnte er sich alles erlauben?
"Ich hab mich doch entschuldigt, tut mir echt leid."
Der Mann sah zerknirscht aus und schenkte ihr dann ein aufrichtiges Lächeln, als ob das etwas an der Tatsache ändern würde, dass er sie fast umgefahren hatte. Es war ein seltsames Gefühl, auf einen so kräftigen Mann herunterzublicken, denn Elea war sehr klein und musste deshalb in der Regel zu den Männern aufschauen, auch wenn ihr das nicht behagte. Und dieser Mann war nicht nur kräftig, mit breiten Schultern, ein echter Bär von einem Mann, nein, er sah auch noch extrem gut aus, auf eine ungezähmte Weise, die so gar nicht zu den fehlenden Beinen und seinem Rollstuhl passte. Seine dunkelblonden Haare hatte er in einem lockeren Knoten am Hinterkopf gebändigt, der bei jedem anderen albern oder unpassend gewirkt hätte, nicht aber bei ihm, und sein extrem kurzer Undercut ging nahtlos in einen Vollbart über, der ebenfalls extrem kurz war und mehr wie ein Dreitagebart aussah. Weil der Bart so kurz war, hatte Elea einen ungestörten Blick auf seinen Mund mit perfekten Lippen, die nicht zu voll und nicht zu schmal waren und zwischen denen jetzt seine weißen Zähne aufblitzten, als er sie anlächelte. Seine Augen hatten eine undefinierbare Farbe, irgendetwas zwischen Braun und Rauchgrau, und in den Augenwinkeln hatte er Lachfältchen, viele Lachfältchen.
Elea spürte, wie ihr auf einmal die Luft fehlte, es war, als hätte sich um sie herum ein Vakuum gebildet, das den gesamten Sauerstoff aufgesogen hatte. Abrupt wandte sie sich von diesem unglaublichen Mann ab und konnte spüren, wie die Luft in ihre Lungen zurückkehrte, jetzt, wo der Zauber gebrochen war. Was war nur mit ihr los?
"Darf ich Sie zu einem Kaffee oder Cappuccino einladen? Als Wiedergutmachung?" fragte der Mann, der sich offensichtlich von ihrem ruppigen Verhalten nicht abschrecken ließ.
Aber Elea ignorierte ihn und setze sich in Bewegung, um der Menschentraube zu folgen, die schon fast die andere Straßenseite erreicht hatte. Sie hatte keine Lust, noch ein paar Minuten im Nieselregen zu stehen und auf die nächste Grünphase zu warten. Und sie hatte keine Lust, neben diesem seltsamen Mann zu stehen und Smalltalk mit ihm zu machen, bloß weil er im Rollstuhl saß.
Also antwortete sie nicht.
Und drehte sich auch nicht mehr nach ihm um.

Mit einem Gefühl der Erleichterung schloss sie Ihre Wohnung auf und ließ die Tür hinter sich zufallen. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag werden, denn alle ihre Tage waren anstrengend, aber zumindest für heute war sie fertig mit der Arbeit und sie freute sich darauf, es sich bei dem scheußlichen Herbstwetter in ihrer kleinen aber feinen Wohnung gemütlich zu machen.
Mit einem Seufzer zog sie sich die Schuhe aus, hängte ihren Mantel ordentlich an die kleine Garderobe und schlüpfte dann in ihre bequemen Sweatpants und das alte Shirt, das sie so sehr liebte. Sie seufzte erneut und rieb sich müde die Augen. Sie war so müde von ihrem langen Arbeitstag, dass sie sich kurz überlegte, einfach direkt ins Bett zu gehen, aber dann gab sie sich einen Ruck und ging stattdessen in die Küche.
Sie musste etwas essen und wusste, dass der Hunger kommen würde, wenn sie erst einmal mit dem Kochen anfing. Und sie wusste auch, dass es ihr gut tat, wenn sie sich abends ein wenig Zeit für sich selbst nahm und den Tag mit einer Tasse Tee und einem guten Buch oder einem schönen Film ausklingen ließ.
In der Küche angekommen musterte sie die kleinen Blechdosen, die oben auf ihrem Kühlschrank standen. Dann griff sie nach der zweiten Dose, die leicht verbeult war und auf der ein Zettel mit der Aufschrift Strom klebte. Sie öffnete die Dose, zählte die Geldscheine in der Dose und steckte sie dann wieder zurück in die Dose, zusammen mit einem der Geldscheine, die sie aus ihrer Hosentasche gezogen hatte, als sie nach Hause gekommen war. Sie zählte nach, wie viel Geld noch übrig war, und steckte es dann in die dritte Dose, auf der Heizung stand. Nicht schlecht, erst Mitte des Monats und sie war schon bei der dritten Dose angekommen! Um ganz sicher zu gehen, griff sie nach der ersten Dose, auf der Miete stand, und zählte die Geldscheine, die sie dabei sorgfältig glatt strich. Die Miete war jeden Monat der größte Brocken und jeden Monat fiel Elea ein Stein vom Herzen, wenn diese Dose voll war. Sie machte sich ständig Sorgen, dass ihr Geld nicht reichen würde, obwohl sie jetzt bereits seit einigen Jahren hier in der Stadt und in dieser Wohnung wohnte und bisher alles eigentlich ganz gut lief.
Das überraschte Elea jeden Monat wieder aufs Neue, niemand hatte ihr zugetraut, dass sie es alleine schaffen würde, am allerwenigsten sie selbst. Aber hier war sie, die Dosen füllten sich auch diesen Monat wieder und in zwei oder drei Tagen würde auch die Dose für die Heizkosten voll sein. Was sie danach verdiente, verteilte sie auf die Dosen Essen, Kleidung, Sparen und Spaß. Klar war es albern, Geld auf beschriftete Dosen zu verteilen, aber es gab Elea ein Gefühl von Sicherheit. Es gab ihr das Gefühl, den Überblick zu bewahren und die Kontrolle über ihr Leben zu haben.
Das war nicht immer so gewesen.
Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der sie keine Kontrolle mehr gehabt hatte. Nicht über sich und nicht über ihr Leben. Überhaupt keine Kontrolle mehr. Sie hatte sich geschworen, dass ihr das nie wieder in ihrem Leben passieren würde, und diese Entschlossenheit hatte ihr die Kraft gegeben, die vergangenen Jahre zu überstehen und sogar so etwas wie eine Routine in ihrem Leben zu schaffen.
Für ihre Verhältnisse ging es ihr in letzter Zeit sogar richtig gut, ja, es gab Momente, in denen sie sich auf etwas freute, wie zum Beispiel heute. Sie freute sich auf ihr Buch und auf die Geschichte, die sie erwartete. Noch immer fiel es ihr schwer, Freude zuzulassen, ohne sich sofort wie ein schlechter Mensch zu fühlen, aber sie würde es lernen. Sie konnte es lernen. In den vergangenen Jahren hatte sie so viel gelernt!
Nachdem Elea aus der Psychiatrie entlassen worden war, war sie abgetaucht. Zum Glück war sie nicht entmündigt worden, in dem ganzen Chaos hatte irgendwie niemand daran gedacht, dass sie vielleicht einen Betreuer brauchte. Und da sie volljährig war, hatte sie die Gunst der Stunde genutzt und war in dem Augenblick von der Bildfläche verschwunden, in dem sie ihre Freiheit wiedererlangt hatte.
Warum sie das Bedürfnis verspürt hatte abzutauchen, konnte sie sich nicht erklären. Es gab niemanden, der nach ihr suchen würde, sie musste sich deshalb auch vor niemandem verstecken. Vermutlich hatte sie damals das Gefühl gehabt, vor der ganzen Situation fliehen zu müssen, vor dem Schrecken und dem Schmerz, und obwohl sie wieder und immer wieder gehört hatte, dass sie sich den Erinnerungen stellen musste, tat diese Flucht ihrer Seele gut. Sie war ja nicht vor sich selbst geflohen und sie stellte sich sehr wohl ihren Erinnerungen. Aber sie musste sich auch nicht damit quälen, dass sie Tag täglich die Orte sah, an denen sie einst glücklich gewesen war.
Unerkannt zu bleiben, gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, genauso wie ihre Blechdosen auf dem Kühlschrank. Es war ja nicht so, dass es noch viele Menschen gab, die sie überhaupt noch kannten, die sich überhaupt noch an sie erinnerten, und unter den wenigen, die sie einmal gekannt hatten und sich vielleicht noch an sie erinnerten, war niemand, der sich wirklich für sie interessierte oder der nach ihr suchen würde. Warum auch? Sie war vollkommen unbedeutend. Sie bedeutete niemandem etwas. Nicht mehr.
Elea merkte, dass sie weinte, ließ sich davon aber nicht beim Gemüseschneiden stören. Weinen war gut, das nahm den Druck und die Last von ihrer Seele und ein kleines bisschen auch den Schmerz. Sie wischte sich nur hin und wieder die Tränen ab und machte sich an die Zubereitung Ihres Abendessens, während die Songs ihrer Lieblingsplaylist die kleine Küche erfüllten.
Später aß sie ihr Abendessen am kleinen Küchentisch und unterhielt sich dabei wie jeden Abend mit Baba, einem kleinen flauschigen Schlenkerhasen mit einem abgerissenen Ohr. Elea hatte die aufgerissene Stelle, aus der die Füllung des Kuscheltiers gequollen war, sorgfältig zugenäht und Baba mit so einer Hartnäckigkeit und Vehemenz gegen alle Versuche verteidigt, ihn ihr wegzunehmen, dass sie ihn schließlich behalten durfte. Er war das Wertvollste, was sie besaß.
"Heute habe ich einen komischen Typ an der Ampel getroffen, Baba."
Sie schob sich noch einen Bissen Gemüse in den Mund und kaute langsam. Das Essen war lecker, es schmeckte wirklich gut, und Elea schloss genießerisch die Augen. Es war nichts schlimmes, dass ihr das Essen schmeckte. Nein, es war gut. Essen war wichtig und wenn es ihr schmeckte, dann umso besser.
"Also, eigentlich habe ich ihn ja nicht getroffen, sondern er hat mich getroffen. Mit seinem Rollstuhl."
Elea musste über ihren eigenen, schwachen Witz lachen und zwinkerte Baba zu.
"Er hatte zwar keine Beine, aber davon abgesehen war er ein echter Hingucker."
Sie aß schweigend ein paar Minuten weiter und schien dabei einer inneren Stimme zu lauschen.
"Nein Baba, ich will mich nicht mit ihm treffen. Du weißt doch, das geht nicht, ich kann das nicht."
Sie warf dem Schlenkerhasen einen leicht genervten Blick zu.
"Nein Baba, es macht mir nichts aus, alleine zu sein. Ich bin gerne alleine."
Dann beugte sie sich vor und drückte dem kleinen Hasen einen versöhnlichen Kuss auf die Nase.
"Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen und noch ein bisschen lesen. Soll ich dir was vorlesen?"
Als Elea später ins Bett ging und Baba wie jeden Abend auf ihren Nachttisch setzte und an den kleinen Bücherstapel lehnte, der sich dort immer auftürmte, musste sie wie schon so oft daran denken, dass andere Leute sie vermutlich für verrückt halten würden, weil sie sich mit einem Kuscheltier unterhielt. Aber sie war nicht verrückt. Sie war eine Zeit lang verrückt gewesen, etwas in ihrer Seele war aus dem Gleichgewicht geraten und gekippt, sodass sie in Schieflage geraten war. Verrückt hieß, dass sich die Dinge nicht mehr am richtigen Platz befanden und wieder gerade gerückt werden mussten. Aber mit Baba zu reden, tat ihr gut.
Es hielt die Erinnerung wach. Und das war gut so, denn Elea wollte nicht vergessen. Es gab Dinge, die waren so unsäglich, so schmerzhaft, dass sie nicht dafür bestimmt waren, vergessen zu werden. Und es gab Erinnerungen, die so kostbar waren, dass sie nicht vergessen werden durften.
"Gute Nacht, Baba", sagte Elea und machte das Licht aus.

Am nächsten Morgen stand Elea wie immer früh auf. Sie arbeitete als Mädchen für alles in einer großen Zoohandlung und ihre Hauptaufgabe war es, die Käfige zu reinigen und die Tiere zu füttern, bevor das Geschäft öffnete, und für volle Regale und Ordnung zu sorgen. Manchmal saß sie auch an der Kasse oder putzte die Aquarien oder den großen Koi-Teich, der eine der Hauptattraktionen des Zoogeschäfts war. Da chronischer Personalmangel herrschte, machte sie fast täglich Überstunden, auch deshalb, weil ihr Chef ihr die Überstunden unter der Hand ausbezahlte. Was blieb ihm anderes übrig? Es war so schwer, gutes Personal zu finden, ständig kamen neue Mitarbeiter, die praktisch genauso schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, wenn sie merkten, dass sie hier für ihr Geld richtig arbeiten mussten und dass sie sich nicht nach Belieben in den Regalen selbst bedienen durften. Und die paar Überstunden, die gesetzlich erlaubt waren, waren schlicht und einfach nicht genug für all die Arbeit, die ständig liegen blieb.
Elea machte es nichts aus, viel zu arbeiten. Das beschäftigte sie und hielt sie davon ab, sich zu viele Gedanken zu machen. Und es beruhigte sie, denn viel zu arbeiten bedeutete, dass sie einen weiteren Monat schaffen würde und dass sie weitere Geldscheine in ihre Dosen verteilen konnte.
In der Küche machte sich Elea einen Kaffee, den sie im Stehen trank, verabschiedete sich dann von Baba und machte sich auf den Weg zum Zoogeschäft. Draußen war es noch dunkel und das bedeutete, dass der Sommer vorbei war und der Herbst kam und dann der Winter mit wenig Tageslicht und viel schlechtem Wetter. Elea wurde es mulmig bei dem Gedanken an die kalte und dunkle Zeit, die ihr bevorstand, aber sie würde auch diesen Winter überstehen, wie sie die anderen Winter davor überstanden hatte. Sie würde sich einfach an ihrer Routine und ihren gewohnten Tagesabläufen festhalten und lange Gespräche mit Baba führen. Sie würde auch diesen Winter wieder überall Lichterketten aufhängen, die ihre Wohnung mit ihrem warmen Schein erfüllte, und versuchen, nicht daran zu denken, wie Weihnachten eigentlich sein sollte. Nicht daran zu denken, wie Weihnachten einmal gewesen war und was es ihr einmal bedeutet hatte.
Die Hände tief in den Taschen ihrer warmen Jacke vergraben, ging Elea zügig durch die Straßen und stieg dann hinunter in die Tunnel, um mit der Metro ins Stadtzentrum zu fahren. Sie wohnte am Stadtrand in einem der Viertel, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, die aber trotzdem noch eine gewisse Sicherheit und Wohnqualität boten. Eine Wohnung im Stadtzentrum konnte sich Elea nicht leisten, jedenfalls keine akzeptable Wohnung, und außerdem machte es ihr nichts aus, die halbe Stunde mit der Metro zu fahren. Wie jeden Morgen schaute sie stumm aus dem Fenster, ohne irgendetwas zu sehen oder zu denken. An nichts zu denken, hatte sie in den vergangenen Jahren perfektioniert und mittlerweile gehörte das wie so viele andere Dinge zu ihrer täglichen Routine.
Im Zoogeschäft angekommen stürzte sich Elea in die Arbeit. Heute war Freitag und deshalb war am Nachmittag mit einem großen Andrang zu rechnen, auch weil heute die Tierlieferung kam und die kleinen Welpen und die Kätzchen ein echter Publikumsmagnet waren und weggingen wie warme Semmeln. Bloß dass sie halt keine Semmeln waren. Elea wusste, dass viele von ihnen schon bald wieder von ihren Besitzern ausgesetzt oder weggegeben werden würden, wenn die erste Begeisterung verflogen war oder aus den süßen kleinen Tierchen große Tiere wurden, die viel Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchten. Ein Tier zu halten bedeutete, Verantwortung zu übernehmen, was den meisten Menschen gar nicht bewusst zu sein schien. Elea wusste, warum sie kein Tier hatte, sie wollte keine Verantwortung mehr übernehmen. Nie wieder.
Wie erwartet war der Vormittag extrem hektisch, alle zehn Minuten kam ihr Chef vorbei, der ständig etwas von ihr wollte. Elea, hast du schon? Elea könntest du mal? Elea, denkst du daran? Zum Glück hatte Elea alles im Griff und vergaß nie etwas. Trotzdem war es schon fast zwei Uhr, als sich Elea die erste Pause des Tages gönnte. Langsam ging sie zu der Bäckerei mit Café im Eingangsbereich der großen Zoohandlung, holte sich ein belegtes Brötchen, das sie mit einem ihrer Essensgutscheine bezahlte, die ihr Chef ihr jede Woche gab, und setzte sich dann an einen der kleinen Tische, um ihr Brötchen zu essen.
Eigentlich hatte sie jetzt Feierabend, aber sie würde noch ein paar Stunden bleiben, der Besucheransturm würde erst am Nachmittag kommen, wenn sich die Leute auf das Wochenende einstimmten, und Elea wusste, dass sie alle Hände voll zu tun haben würde.
Natürlich konnte sie nicht ewig so weitermachen und immer Doppelschichten arbeiten. Sie wusste, dass sie versuchen sollte, ein wenig Anschluss zu finden, jetzt, wo es ihr besser ging dank ihrer Routine. Eine Selbsthilfegruppe oder Therapie kam für sie nicht in Frage, sie würde nie wieder einem Psychologen trauen oder vertrauen, aber es gab ja auch andere Dinge, die sie tun konnte. Sie könnte sich zum Beispiel ein Hobby suchen, etwas, das ihr Spaß machte und sie dazu brachte, ein wenig unter die Leute zu kommen. Sport zum Beispiel.
Elea knüllte die Papierserviette zusammen, in die ihr Brötchen eingewickelt gewesen war, und seufzte. Diese Diskussion führte sie seit mindestens einem Jahr im Stillen mit sich, aber bisher hatte sie sich noch nicht dazu durchringen können, diesen nächsten Schritt zu gehen. Nun gut, sie würde am Wochenende ernsthaft darüber nachdenken und ein bisschen im Internet suchen, ob es irgendetwas gab, das sie vielleicht interessieren könnte.
Sie stand auf, warf ihren Abfall weg und ging dann nochmals zur Theke, um sich einen kleinen Kaffee zu bestellen. Wie immer starrte sie zuerst auf die verschiedenen köstlichen Kaffeespezialitäten, die hier angeboten wurden und unglaublich verlockend waren. Aber dann rief sie sich im Stillen zur Ordnung. Sie musste auf ihr Geld aufpassen und wenn sie sich jeden Tag eine Kaffeespezialität kaufen würden, würde sie das am Ende des Monats viel Geld kosten. Zuviel Geld, das sie besser sparte für schlechte Zeiten oder für irgendwelche Katastrophen, die unverhofft über sie hereinbrachen.
"Für mich einen großen Karamell-Macchiato mit extra viel Sahne und mit Schokostreuseln", sagte der Mann, der in der Schlange hinter ihr stand und anscheinend die Geduld verloren hatte, weil Elea so lange brauchte, um sich zu entscheiden. Sie seufzte.
"Und für mich bitte einen kleinen Kaffee", sagte sie mit einem letzten wehmütigen Blick auf das verlockende Angebot. Dann bezahlte sie ihren Kaffee und ging weiter zur Ausgabetheke, wo sie schweigend und in Gedanken versunken darauf wartete, dass die Mitarbeiterin ihr den Kaffee brachte. Kurz darauf kam sie auch schon, in einer Hand hielt sie ein großes Glas, auf dem sich Schlagsahne türmte, die mit Karamellsauce und Schokostreuseln getoppt war. In der anderen Hand hielt sie Eleas kleinen Kaffee. Elea seufzte ein wenig enttäuscht. Vielleicht sollte sie doch einmal eine Ausnahme von ihrer Regel machen und sich so eine Köstlichkeit gönnen?
"Bitte schön", sagte die Bedienung mit einem freundlichen Lächeln und stellte die Tasse und das Glas ab.
"Danke schön", sagte der Mann, der hinter Elea stand, und nahm sich Eleas Kaffee.
"He!" rief Elea empört und drehte sich um. Hinter ihr stand ein großer Mann, der sie angrinste. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn erkannte. Der Mann aus dem Rollstuhl! Sie blinzelte ungläubig.
"Ich wusste nicht, dass Beine nachwachsen können."
Das hatte sie eigentlich nicht laut sagen wollen, es war ihr nur so herausgerutscht, aber den Mann schien das nicht zu stören. Statt verärgert zu sein, zwinkerte er ihr verschwörerisch zu und deutete auf seine Füße. Elea ließ ihren Blick an ihm herunterwandern und wusste nicht, ob es ihr gefiel, dass er auf einmal so groß war. Unten aus seinen Hosenbeinen, die er fast bis zu den Knien hochgekrempelt hatte, ragten seltsame gebogene Metallschienen.
Gegen ihren Willen war Elea beeindruckt. Sie hatte sich noch nie wirklich mit Prothesen befasst und in ihrem Hinterkopf stellte sie sich Prothesen immer noch als eine Art Holzbein vor, aber diese Dinger sahen echt hochtechnologisch aus.
"Krass", sagte sie deshalb mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme, "aber warum Sie mir deshalb den Kaffee wegnehmen, leuchtet mir nicht so ganz ein."
Der Mann deutete auf die Karamell-Köstlichkeit auf der Theke.
"Der ist für Sie. Ich nehme den Kaffee."
"Wieso das denn?" fragte Elea leicht verwirrt, aber ihre Hand hatte sich schon verselbstständig und das Glas ergriffen, das sie jetzt vorsichtig zu einem der freien Tische trug und noch vorsichtiger darauf abstellte.
"Echte Kerle wie ich trinken doch nix, wo Schlagsahne und Schoki oben drauf ist. Echte Kerle wie ich trinken Kaffee. Schwarzen Kaffee. Ohne Zucker."
"Hm", machte Elea, die dem Mann nur mit halbem Ohr zugehört hatte, weil sie dabei war, vorsichtig den langstieligen Löffel erst durch die Sahne- und Karamellschichten zu graben und sich den kleinen süßen Berg dann in den Mund zu schieben.
"Oh!" seufzte sie glücklich und strahlte das Glas an.
"Lecker?" fragte der Mann und setzte sich ungefragt zu ihr an den Tisch.
"He, das ist mein Tisch", informierte Elea ihn leicht verärgert. Sie mochte es nicht, wenn Menschen einfach in ihren persönlichen Raum eindrangen, und dieser Typ war irgendwie seltsam.
"Tut mir leid. Möchten Sie, dass ich gehe?"
Er machte Anstalten aufzustehen und schaffte es, wegen ihrer unfreundlichen Abfuhr geknickt auszusehen. Elea war klar, dass seine Enttäuschung nur gespielt war, und ließ ihrem Blick unentschlossen zwischen dem Mann und ihrem Karamell-Macchiato hin- und herwandern. Dann seufzte sie und winkte mit dem Löffel.
"Meinetwegen, bleiben Sie sitzen. Wieso haben Sie den Macchiato bestellt, wenn Sie ihn doch gar nicht wollten?"
Vorsichtig hob Elea das Glas an die Lippen und trank einen Schluck von dem heißen Macchiato durch die Sahnehaube. Das war ja unglaublich lecker!
"Na, für Sie. Ich hab gesehen, wie Sie die Kaffeespezialitäten angestarrt haben und ich schulde Ihnen noch eine kleine Wiedergutmachung."
Verblüfft starrte Elea den Mann an. Das war nett!
"Oh! Na dann, ich bin Elea."
Sie reichte ihm ihre Hand über den Tisch, die er sofort ergriff. Ihre kleine Hand verschwand komplett in seiner großen Hand und Elea war einen Augenblick lang überwältigt von seiner körperlichen Präsenz und seiner Stärke. Ihr wurde mulmig, aber sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn sein Händedruck war fest und angenehm, aber so behutsam, dass sich ihre kleine Hand in seiner großen Hand sofort gut aufgehoben fühlte.
"Wulfgar", sagte er und ließ ihre Hand wieder los, "Wulfgar Winter."
"Das ist doch kein Name!" rief Elea ungläubig aus.
"Oh doch, ist es."
Er lachte und sah sie mit einer entspannten Heiterkeit an, die lange verdrängte Sehnsüchte in ihr weckte. Die Sehnsucht nach Nähe, nach Freude, nach Liebe, nach Zweisamkeit. Nach Familie.
Ohne dass Elea es verhindern konnte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen und deshalb wusste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Wulfgar stellte keine Fragen, sondern griff über den Tisch und nahm wieder ihre Hand, die er einfach nur hielt, sonst nichts. Trotzdem hatte es etwas unglaublich Tröstendes.
"Doch, das ist ein Name", sagte er dann ohne weiter auf den kleinen Tränenausbruch von Elea einzugehen, "meine Mutter hat eine Schwäche für nordische Namen. Mein Bruder heißt Heimdall."
Elea musste lachen. Sie entzog Wulfgar ihre Hand, trocknete sich die Tränen, putzte sich die Nase und widmete sich dann wieder ihrem Macchiato. Sie hatte nicht vor, irgendetwas von diesem leckeren Getränk zu vergeuden oder zu verschwenden.
"Immerhin ein Name, der im Gedächtnis bleibt. Wulfgar und Heimdall Winter."
Sie nahm noch einen Schluck Macchiato, leckte sich die Sahne von der Oberlippe und fragte dann:
"Wie kommt's, dass du gestern im Rollstuhl gesessen bist und heute zu Fuß gehst?"
"Ich bin vom Training gekommen."
"Vom Training?"
Verblüfft musterte Elea den Mann. Er war definitiv außergewöhnlich. Was Elea nicht uninteressant fand. Und nicht unattraktiv. Was wiederum ein echtes Problem war. Um sich abzulenken, fragte sie:
"Zum Trainieren nimmst du deine Beine ab? Was ist das denn für ein seltsamer Sport?"
"Rollstuhl-Rugby."
"Das machst du, Rollstuhl-Rugby?"
Elea hatte keinen blassen Schimmer, was Rugby eigentlich war, geschweige denn Rollstuhl-Rugby.
"Nein, das mache ich nicht, ich bin der Trainer."
Ganz offensichtlich fehlten Elea die erforderlichen Fachkenntnisse, um Wulfgar zu folgen.
"Das verstehe ich nicht", sagte sie deshalb resigniert und kratzte mit dem Löffel die letzten Schaum-, Karamell- und Sahnereste aus dem Glas.
Wulfgar lachte wieder und lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.
"Macht nix, praktisch niemand weiß, was das ist."
Er machte eine kurze Pause und schenkte Elea dann ein strahlendes Lächeln. Wie konnte jemand die ganze Zeit so gut gelaunt sein wie Wulfgar? Jemand, dem zwei Beine fehlten?
"Am Wochenende haben wir ein Spiel. Warum kommst du nicht vorbei und schaust es dir an?"
Er zog einen Stift aus der Hosentasche und kritzelte etwas auf eine Papierserviette, die er aus dem Serviettenspender auf dem Tisch zog.
"Hier. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommen würdest, Elea."
Wulfgar stand auf, berührte noch einmal ganz kurz und sanft ihre Hand und ging dann zu seinem Einkaufswagen, den er an der Wand abgestellt hatte und auf dem sich Tüten mit Hundefutter türmten. Er bewegte sich mit einer Natürlichkeit und Geschmeidigkeit auf seinen Hightech-Prothesen, die Elea sofort faszinierte. Bevor Wulfgar durch die große Glastür verschwand, drehte er sich noch einmal zu Elea um und winkte ihr zu. Und Eleas Hand winkte zurück, obwohl Elea überhaupt nicht zurückwinken wollte. Diese miese, kleine, verräterische Hand.
Trotzdem nahm Elea die Papierserviette, faltete sie ordentlich zusammen und schob sie in ihre Hosentasche. Natürlich würde sie nicht zu einem Rugbyspiel gehen, egal ob mit oder ohne Rollstuhl. Ganz bestimmt nicht.

Am Sonntagnachmittag stieg Elea in einen Bus, der sie zur Sporthalle brachte, in der das Spiel stattfand. Sie konnte selbst nicht so ganz glauben, dass sie das wirklich tat, aber wenn sie nicht bereit wäre, Änderungen in ihrem Leben zuzulassen, hätte sie es nicht bis hierhin geschafft. Bis heute und bis hier. Kleine Änderungen nur, immer nur kleine Schritte auf dem Weg zu etwas, das man mit viel gutem Willen als Normalität bezeichnen konnte, aber Änderungen. Denn Stillstand bedeutete, dass die Dinge in ihrer Seele und in ihrem Kopf wieder in Bewegung geraten würden, sie würden ins Schwanken geraten und schließlich durcheinander purzeln wie Bauklötze, wenn der mühevoll errichtete Turm in Schieflage geriet und umkippte. Und dann wäre wieder alles verrückt, nichts würde sich mehr dort befinden, wo es eigentlich hingehörte. Und dann würde die Dunkelheit kommen, nicht das Dunkel des Winters, sondern die wirkliche Dunkelheit und mit ihr das Vergessen. Und das war es, was Elea verhindern wollte, was sie um jeden Preis verhindern musste.
Denn sie wollte nicht vergessen, ihre Erinnerungen waren viel zu kostbar.
Überraschender Weise war es ihr diesmal gar nicht schwer gefallen, den nächsten Schritt zu machen. Sie hatte sich über ein Jahr lang nicht dazu durchringen können, aber die Begegnung mit Wulfgar hatte etwas in ihr bewirkt und zum ersten Mal verspürte sie wieder Neugier. Tatsächlich wollte sie zu dem Spiel gehen. Sie musste es nicht, sie wollte es. Das war doch gut, oder?
Du denkst schon wieder zu viel, Elea, ermahnte sie sich in Gedanken und betrachtete ihr Gesicht, das sich in der Fensterscheiben vom Bus spiegelte. Sie sah müde aus, erschöpft. Erschöpft von ihrem täglichen Kampf gegen die Dunkelheit. Es wurde Zeit, dass sie ein bisschen Freude und Licht in ihr Leben ließ. Sie war nervös, weil sie irgendwie vergessen hatte, wie das ging, aber sie würde das schon schaffen und vielleicht würde es ihr ja sogar gefallen, wer weiß?
Elea hatte absichtlich den späteren Bus genommen, um an der Sporthalle anzukommen, wenn das Spiel schon begonnen hatte. So vermied sie einen eventuellen Menschenauflauf, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie viele Menschen überhaupt zu so einem Spiel kamen. Sie war deshalb überrascht, als sie die Sporthalle betrat und sah, dass die Ränge praktisch komplett besetzt waren, obwohl die Halle nicht gerade klein war, und die Menge die Spieler auf dem Spielfeld lautstark anfeuerte.
Ein wenig verunsichert betrachtete Elea das Treiben auf dem Spielfeld. Die Spieler rasten mit seltsam aussehenden Rollstühlen über das Spielfeld und einem Ball hinterher. Dann fuhr ein Spieler krachend und so heftig in einen anderen, dass der Rollstuhl umkippte und der gegnerische Spieler zu Boden stürzte. Erschrocken schlug Elea die Hände vor den Mund, aber die Menge begrüßte die Aktion auf dem Spielfeld mit großem Gejohle, das die Gemüter noch mehr erhitzte. Elea musste schlucken. Sie wusste nicht so genau, was sie erwartet hatte, aber das hier war mit Sicherheit nicht das, was sie sich unter Behindertensport vorgestellt hatte.
Dann sah sie Wulfgar, der in seinem Rollstuhl am Spielfeldrand hin- und herfuhr, seine Mannschaft beobachtete und den Spielern immer wieder etwas zurief. Es war offensichtlich, wie viel ihm dieser Sport bedeutete und dass er dafür brannte. Neugierig geworden setzte Elea sich auf einen der letzten freien Plätze und beobachtete fasziniert das Spiel, das wirklich spektakulär war und ganz sicher nichts für Weicheier. Kurze Zeit später ertönte ein durchdringender Ton und die Spieler rollten an den Spielfeldrand. War das Spiel schon vorbei? Elea bereute es ein bisschen, dass sie so spät gekommen war, aber anscheinend war Halbzeit oder so etwas ähnliches, denn ein paar Leute standen zwar auf, aber die meisten blieben auf ihren Plätzen sitzen.
Elea ließ ihren Blick über das Publikum wandern, das bunt gemischt war, was Elea überraschte. Diese Überraschung machte ihr bewusst, wie absurd es war, die Menschen in Behinderte und Nichbehinderte einzuteilen, in Wirklichkeit waren das alles ganz normale Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften. Niemandem würde es in den Sinn kommen, eine Person mit Diabetes als Behinderten zu bezeichnen, obwohl diese Krankheit die Person sicher mehr einschränkte und in ihrem Alltag behinderte als die fehlenden Beine Wulfgar behinderten und einschränkten. Plötzlich war Elea froh, dass sie gekommen war. Es war wirklich an der Zeit, dass sie ihre Ansichten und Meinungen mal ein bisschen auffrischte und neu überdachte. Und das konnte sie sicher nicht, wenn sie sich jeden Tag zu Hause verkroch.
Ihre Freude war allerdings nur von kurzer Dauer, denn plötzlich sah sie ein Gesicht in der Zuschauermenge. Das Gesicht. Der Schreck und der Schock fuhren ihr in alle Glieder und einen Augenblick lang war sie nicht mehr in der Lage zu atmen. Ihr Herz raste wie wild und ihr brach kalter Schweiß aus. Panik übermannte sie und sie sprang auf und verließ fluchtartig die Sporthalle. Draußen im Freien fiel ihr das Atmen wieder etwas leichter, aber der Gedanke, wieder in die Sporthalle zurückzukehren, war ihr unerträglich. Also stieg sie in den nächsten Bus, der sie nach Hause brachte. Während der ganzen Fahrt ließ sie der Gedanke an das Gesicht nicht los und ihr Herz hämmerte immer noch wie wild, als sie aus dem Bus ausstieg und die letzten Meter bis zu ihrer Wohnung zu Fuß zurücklegte.
Hatte sie sich das nur eingebildet?
Sie hatte das Gesicht ganz klar und deutlich gesehen, das Gesicht des Mannes, den sie auch auf der Beerdigung gesehen hatte. Und viele Male danach, ganz so, als ob er sie beobachten würde. Sie hatte damals mit niemandem darüber geredet, denn sie hatte sich in einem absoluten Ausnahmezustand befunden, der schließlich zu ihrer Einweisung in die Psychiatrie geführt hatte, und als sie ihre Freiheit endlich wiedererlangt hatte, war sie abgetaucht.
Konnte sie den Mann überhaupt wiedererkannt haben? Immerhin waren seit damals fast fünf Jahre vergangen, das war eine lange Zeit. Trotzdem, Elea hatte schon lange nicht mehr an den Mann gedacht und dass sie ihn jetzt so plötzlich in der Menge erkannt hatte, konnte eigentlich nur bedeuten, dass er wirklich da gewesen war. Oder eine andere Person, die ihm erstaunlich ähnlich sah. Je länger Elea darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass es sich um eine zufällige Ähnlichkeit handeln musste. Ähnlichkeiten unter wildfremden Menschen waren keine Seltenheit und die Wahrscheinlichkeit war deutlich höher als die, diesen Mann hier, in einer ganz anderen Stadt und an einem ganz anderen Ort zufällig wiederzutreffen.


Der nächste Tag war schwierig für Elea, sie hatte kaum geschlafen und die wenigen Stunden, in denen sie Schlaf gefunden hatte, waren von Albträumen geplagt gewesen. Der nächste Morgen war deshalb einer der Tage, an denen sie von einer tiefen Dankbarkeit für ihre Arbeit erfüllt war, für ihre Alltagsroutine, an die sie sich einem Rettungsseil gleich klammern konnte, um nicht in den Abgrund zu stürzen.
Im Zoogeschäft angekommen, behandelte sie die Tiere wie immer mit größter Freundlichkeit, auch wenn es ihr selbst gerade nicht gut ging, denn ihr tat das Herz weh, wenn sie Tiere in Käfigen sah. Die einzigen, die weniger unter der Gefangenschaft zu leiden schienen, waren die Fische in den Aquarien, aber wer wusste schon, wovon sie träumten? Wer konnte schon sagen, ob sie die Weite der Ozeane vermissten? Vielleicht weinten sie ja den ganzen Tag, nur dass ihre Tränen weggespült wurden, sodass sie niemand sah. Vielleicht brannten ihre Augen ja vor vergossenen Tränen, so wie Eleas Augen brannten, weil sie nach einem besonders schlimmen Traum aufgewacht war und bittere Tränen geweint hatte, bis Baba ihr schließlich gesagt hatte, sie solle damit aufhören. Den Mann in der Menge zu sehen, hatte sie wieder zurückkatapultiert in die schlimme Zeit, aber Elea war fest entschlossen, sich dadurch nicht aus der Bahn werfen zu lassen.
Weil die Ereignisse sie so mitgenommen hatten, beschloss sie, an diesem Tag pünktlich Schluss zu machen, aber als sie aus der Zoohandlung trat und in den trüben, wolkenverhangenen Himmel blickte, kamen ihr Zweifel, ob das so eine gute Idee gewesen war. Vielleich hätte sie sich doch lieber mit Arbeit ablenken sollen?
Als jemand ihren Namen rief, reagierte sie deshalb zuerst überhaupt nicht, auch weil nie jemand ihren Namen rief, außer ihrem Chef natürlich. Irgendwann wurde ihr klar, dass tatsächlich jemand nach ihr rief, und sie blieb stehen und drehte sich mit einer Mischung aus Angst und Beklemmung um. War es der seltsame Mann, den sie in der Menge gesehen hatte?
Aber es war nur Wulfgar, der an einem Geländewagen lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt. Zu seinen Füßen saß der größte Hund den Elea je gesehen hatte. Die Erleichterung darüber, dass es Wulfgar war und nicht der seltsame Mann, war so groß, dass Eleas Beine nachgaben und sie zu Boden sank, wo wie einfach sitzen blieb, während ihr die Tränen erneut über die Wangen liefen. Sie wusste, dass es nicht gut war, dass sie schon wieder an einem öffentlichen Ort in Tränen ausbrach, aber sie konnte nichts tun, um ihren Tränenstrom einzudämmen, also schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte weiter. Früher oder später würden die Tränen versiegen, das taten sie immer. Fast so, als ob der Körper nur in der Lage wäre, eine bestimmte Tränenmenge zu produzieren, und wenn diese Menge verbraucht war, versiegten die Tränen, auch wenn der Schmerz blieb.
"Elea, Elea", sagte jemand mit sanfte Stimme und dann wurde sie vorsichtig hochgehoben und bevor sie wusste, wie ihr geschah, lag ihr Kopf an einer breiten Schulter.
"Alles wird gut, Elea", flüsterte Wulfgar ihr zu, aber Elea wusste, dass das eine Lüge war, manche Dinge wurden nicht wieder gut, nie wieder.
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge.
"Nichts wird gut, gar nichts wird gut", schluchzte sie heftig und die Tränen waren heiß auf ihren Wangen.
Sie hörte, wie eine Autotür geöffnet wurde, und dann stieg Wulfgar in den Wagen, ohne sie loszulassen. Er hielt sie eng umfangen, streichelte sanft ihre Haare und murmelte immer wieder:
"Doch, das wird es, Elea, alles wird gut, ich verspreche es dir. Alles wird gut."
Die Situation war Elea unglaublich peinlich und unangenehm, was musste Wulfgar von ihr denken? Also hielt sie weiter die Augen geschlossen und weil Wulfgar nichts mehr sagte, sondern sie nur still weiter umarmte, beruhigte Elea sich langsam. Das lag an der Wärme, die er ausstrahlte, an der Ruhe. An seinem Herzschlag, den Elea ganz deutlich hören und spüren konnte. An dem Gefühl der Geborgenheit, das seine Umarmung ihr vermittelte. Seit damals hatte sie keine Nähe mehr zugelassen und sie wusste, dass sie es auch jetzt nicht tun sollte, dass sie eigentlich aufstehen und weggehen sollte. Dass sie für immer aus Wulfgars Leben verschwinden sollte. Aber sie konnte es nicht, sie konnte es einfach nicht. Sie hatte die Nähe so vermisst. So schrecklich vermisst. Also blieb sie einfach auf Wulfgars Schoß sitzen und nach einer Weile hatte sie das Gefühl, als ob sie in seine Umarmung fließen würde, als ob ihre Seele versuchen würde, sich so nah wie möglich an Wulfgar zu schmiegen, um so viel Wärme wie möglich aufzunehmen. Bevor es vorbei war. Denn es würde vorbei sein, schon sehr bald.
Plötzlich hörte Elea ein Schnüffeln und dann leckte eine große Zunge ihr Gesicht.
"Lass das, Thor", wies Wulfgar seinen Hund zurecht und schob ihn zur Seite.
"Thor? Warum überrascht mich das nicht", murmelte Elea und öffnete vorsichtig die Augen, um sich der Realität zu stellen. Weglaufen hatte ja keinen Sinn, das wusste sie nur zu gut.
Sie saßen auf der Rückbank des Pickups. Also Wulfgar saß auf der Rückbank und sie auf seinem Schoß.
Verlegen versuchte Elea, sich aus Wulfgars Umarmung zu befreien, aber er ließ sie nicht los. Stattdessen streichelte er weiter über ihre Haare.
"Willst du darüber reden?" fragte er und Elea stellte fest, dass sie seine Stimme mochte. Sie war tief und von einer Wärme erfüllte, die nicht gespielt war. Er besaß diese einzigartige Herzenswärme, die so selten unter den Menschen war. Die meisten Menschen waren oberflächlich und egoistisch und liebten eigentlich nur sich selbst. Sie war keinem Menschen mehr mit dieser Herzenswärme begegnet, nicht seit Markus. Markus. Der Schmerz traf sie mit voller Wucht und ein klagender Laut presste sich aus ihrem tiefsten Herzen durch ihre Kehle, auch wenn sie mit aller Gewalt versuchte, ihn zurückzuhalten. Und da gab sie nach. Zum ersten Mal überhaupt gab sie dem Schmerz komplett nach. Sie konnte ihn nicht für immer in ihrem Herzen bewahren, sonst würde er sie früher oder später verschlingen, zusammen mit all den Erinnerungen, die sie nicht verlieren wollte, die sie nicht verlieren durfte. Dass der Schmerz groß war, hatte sie gewusst, aber sein tatsächliches Ausmaß erschreckte sie zutiefst. Sie wurde von so heftigen Schluchzern geschüttelt, dass sie kaum atmen konnte. Schließlich ebbten der Schmerz und die Verzweiflung ab und Elea konnte spüren, dass ein großer Druck von ihrer Seele genommen worden war. Das, was keiner der Psychiater mit Therapien und Medikamenten geschafft hatte, hatte eine einzige Umarmung voller Herzenswärme vollbracht.
"Es ist wegen Markus und Joel", sagte Elea leise und mit einer Stimme, die vom vielen Weinen ganz rau und heiser war.
"Sie sind tot."
Nachdem sie das Unsägliche ausgesprochen hatte, hielt Elea einen Augenblick lang den Atem an und wartete darauf, dass ihr Herz stehenblieb oder die Welt aufhörte, sich zu drehen. Oder dass der unsägliche Schmerz zurückkehrte, aber nichts dergleichen geschah.
Stattdessen spürte sie so etwas wie Frieden.
"Das tut mir leid", sagte Wulfgar, der überraschend gut mit ihrem emotionalen Zusammenbruch umging. Sie konnte spüren, dass er tatsächlich wusste, wie sie sich fühlte. Echtes Mitgefühl. Das war genau so selten wie Herzenswärme und hatte nichts mit Mitleid zu tun, auch wenn viele Menschen diese beiden Dinge oft miteinander verwechselten.
"Mir tut es auch leid", entgegnete Elea mit einem kleinen, schiefen Lächeln und nahm das Taschentuch, das Wulfgar aus der Hosentasche gezogen hatte und ihr reichte.
"Kann ich dir einen Vorschlag machen?"
Wulfgar sah Elea fragend an und streichelte ihr sanft eine Wange, die von den vielen Tränen noch ganz heiß war.
Elea nickte stumm.
"Wir fahren zu mir. Ich koche dir etwas Gutes. Du wirst sehen, in spätestens einer halben Stunde wirst du Hunger bekommen. Gefühle sind sehr kräftezehrend. Und wenn du Lust hast, darüber zu reden, dann höre ich dir gerne zu. Und wenn nicht, dann ist das auch in Ordnung. Ich bin übrigens ein ausgezeichneter Koch."
"In Ordnung", stimmte Elea zu, denn sie wollte jetzt nicht von Wulfgar getrennt sein. Später, wenn sie sich wieder gefasst hatte, würde sie sich selbstverständlich von ihm trennen und vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen, aber jetzt, in diesem Augenblick wollte sie bei ihm sein.
"Echt jetzt?" fragte Wulfgar und sah sie freudig überrascht an.
"Ja, du hast mich im Arm gehalten, als ich geweint habe. Ich glaube es ist in Ordnung, wenn ich mich auch noch von dir bekochen lasse."
"Dann muss ich dich jetzt loslassen?" fragte Wulfgar und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.
"Deine Haare duften wunderbar", murmelte er und klang dabei irgendwie glücklich.
"Danke. Und ja, du musst mich loslassen, ich glaube nicht, dass du so Auto fahren kannst."
"Na gut", stimmte Wulfgar widerwillig zu und ließ Elea los, die auf wackeligen Beinen aus dem Auto kletterte und auf der Beifahrerseite wieder einstieg. Thor blieb auf dem Rücksitz, wo er es sich bequem machte. Als Wulfgar auf der Fahrerseite einstieg, musterte Elea neugierig seine Prothesen.
"Mit den Dingern kannst du Auto fahren?" fragte sie leicht ungläubig.
"Ja klar, warum nicht? Allerdings mit Automatikgetriebe, Sicherheit ist wichtiger als alles andere."
Entspannt legte Wulfgar den Gang ein und fuhr los. Elea blickte aus dem Autofenster und sagte eine Weile lang nichts. Sie war einfach nur froh, hier bei Wulfgar und Thor im Auto zu sitzen. Und sie fühlte sich nach ihrem Gefühlsausbruch immer noch überraschend gut.
"Dir geht es besser", stellte Wulfgar fest und griff nach ihrer Hand, die er dann auf seinen Oberschenkel legte, seine Finger eng mit ihren Fingern verschränkt.
"Ja, mir geht es tatsächlich besser."
"Du klingst überrascht."
"Bin ich auch", entgegnete Elea und dann schwiegen sie wieder. Es war ein angenehmes Schweigen, das sich wie eine warme, weiche Decke um Eleas Schultern legte, und sie ließ dieses wundervolle Gefühl auf sich wirken, genoss diesen Moment des Friedens. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie darunter gelitten hatte, all den Schmerz für sich zu behalten. Nach all den Jahren war er zu einem Teil von ihr geworden und hatte sich fast normal angefühlt, aber in Wirklichkeit hatte er sie ausgehöhlt.
"Wir sind da", informierte Wulfgar sie und ließ ihre Hand los, um den Pickup in eine Einfahrt zu lenken. Elea war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, wohin Wulfgar fuhr, und blickte sich deshalb jetzt neugierig um. Ohne dass Elea es gemerkt hatte, hatten sie die belebte Innenstadt hinter sich gelassen und befanden sich jetzt in einem der Industriegebiete am Stadtrand. Wulfgar parkte seinen Pickup auf dem Parkplatz vor dem Eingang einer kleinen Fabrikhalle, die ganz offensichtlich vor kürzerem renoviert und umgebaut worden war. Über dem Eingang hing ein großes Schild mit der Aufschrift "Zentrum für Rehabilitation und Physiotherapie Winter".
"Hier wohnst du?" fragte Elea zweifelnd und kletterte aus dem Pickup, der für sie als kleine Person viel zu groß und viel zu hoch war.
"Wohnen und arbeiten, zusammen mit meinem Bruder."
"Wow, das sieht aber toll aus. Bist du Physiotherapeut?"
Wulfgar, der ebenfalls ausgestiegen war, trat neben Elea und legte ihr einen Arm um die Schulter.
"Nein, mein Bruder Heimdall ist Physiotherapeut. Ich habe Sportmedizin studiert, aber nach meinem Unfall habe ich mich auf Reha für Prothesenträger spezialisiert und wir haben dieses Zentrum eröffnet. Unsere Eltern haben uns in der Anfangszeit bei der Finanzierung unterstützt, aber jetzt läuft es wirklich gut."
Elea konnte sehen, wie stolz Wulfgar war.
"Du machst das bestimmt super. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen viel bereitwilliger eine Reha bei einer Person machen, die ganz offensichtlich weiß, was es bedeutet, sich nach einem schweren Unfall wieder ins Leben zurückzukämpfen."
Wulfgar warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.
"Ja, das hast du ganz richtig erkannt. Aber die äußeren Verletzungen sind nicht immer die schlimmsten."
Elea seufzte und lehnte sich in Wulfgars Umarmung.
"Soll ich dir das Zentrum mal zeigen?" fragte Wulfgar und schenkte ihr eines seiner Gute-Laune-Lächeln, das Elea wärmte wie ein Sonnenstrahl.
"Unbedingt, ich bin wirklich neugierig!"
"Na dann komm!"
Wulfgar ergriff Eleas Hand und führte sie durch die große Glastür. In der hellen Eingangshalle saß eine ältere Dame hinter der Empfangstheke. Als sie die Tür hörte, blickte sie von ihrem Computer auf und schenkte ihnen ein freundliches Lächeln.
"Hallo Dorothea, gibt's was Neues, was ich unbedingt wissen sollte?"
"Nein, keine Katastrophen. Heimdall behandelt gerade den letzten Patienten und dann sind wir für heute fertig. Hast du alles bekommen?"
"Ja, ich lade das Material nachher noch aus und räume es in den Lagerraum. Das hier ist Elea", stellte Wulfgar sie dann vor. So wie er ihren Namen aussprach, klang das, als ob sie das Kostbarste und Wertvollste auf der Welt wäre.
"Hallo Elea, ich bin Dorothea und mache hier die Termine und den Papierkram."
Sie nickte Elea freundlich zu.
"Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, ich habe keine Ahnung, wie das Reha-Zentrum ohne Dorothea überleben würde. Heimdall und ich haben es nicht so mit dem Papierkram."
Wulfgar zwinkerte Dorothea zu und dann führte er Elea in das Reha-Zentrum.
"Wann wirst du endlich auf anständigen Füßen laufen und nicht immer nur auf diesen unsäglichen Schienen? Du siehst aus wie ein Alien!" rief ihnen Dorothea noch hinterher und Wulfgar gluckste amüsiert. Anscheinend war das ein beliebtes Streitthema zwischen den beiden.
"Bald, Dorothea, versprochen!" rief er zurück, aber Dorothea schüttelte nur missbilligend den Kopf.
"Sie ist nett", sagte Elea ein wenig verwundert. Bisher hatte Elea in ihrem Leben noch nicht viele nette Menschen getroffen und es war irgendwie tröstlich, dass es sie tatsächlich gab.
"Ja, das ist sie", erwiderte Wulfgar und zeigte ihr dann alle Räume und erklärte ihr, was er und sein Bruder hier alles machten. Elea hatte gar nicht gewusst, wie kompliziert es war, Prothesen anzupassen und Bewegungsabläufe neu zu lernen, und war fasziniert von der Arbeit, die die beiden Brüder hier leisteten Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie ihr eigenes Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie eine Familie gehabt hätte, die sie unterstützte, so wie Heimdall und Wulfgar.
Nachdem sie den Rundgang beendet hatten, führte Wulfgar Elea in den hinteren Bereich des Reha-Zentrums, wo es einen Treppenaufgang gab, der in die obere Etage führte.
"Heimdall und ich haben unsere Wohnungen oben", erklärte Wulfgar, als er eine Nummer in das Türschloss eingab und die Tür öffnete, um Elea und Thor in das Treppenhaus zu lassen.
"Oben ist echt viel Platz und es ist sehr praktisch, keine Anfahrtswege zu haben, vor allem im Winter, wenn das Wetter so schlecht ist."
Auf der Treppe zögerte Elea kurz. Es war ein komisches Gefühl, mit einem fremden Mann in eine fremde Wohnung zu gehen, auch wenn sie Wulfgar vertraute.
"Soll ich dich lieber nach Hause fahren?" fragte Wulfgar sofort, als er ihr Zögern bemerkte, aber Elea schüttelte den Kopf.
"Nein, schon ok. Ist nur ungewohnt für mich."
"Na dann komm. Ich beiße nicht und Thor auch nicht."
Als er seinen Namen hörte, bellte Thor kurz und wedelte erfreut mit dem Schwanz.
Also gab Elea sich einen Ruck und folgte Wulfgar in seine Wohnung.

Die Wohnung sah ganz anders aus, als Elea es sich vorgestellt hatte. Sie hatte eine Art Loft erwartet, da sie sich in einer Industriehalle befanden, aber außer dass die Räume sehr hoch und sehr groß waren, ließ nichts mehr die frühere Nutzungsart erkennen. Von der Diele aus ging es direkt in einen großen Wohnraum mit vielen Fenstern und einem offenen Durchgang zur Küche, der überraschend gemütlich eingerichtet war, mit einer großzügigen Sofalandschaft und natürlich mit hochtechnologischen Spielzeugen, wie einem riesigen Flachbildschirm mit Soundsystem und einer Spielekonsole, aber auch mit einem Bücherregal, das fast eine komplette Wand einnahm und in dem sich bestimmte Hunderte von Büchern aneinander reihten. Der Boden war mit Parkett ausgelegt, das deutliche Gebrauchsspuren aufwies und vermutlich noch aus der industriellen Nutzung stammte.
"Darf ich meine Schuhe ausziehen?" fragte Elea, die es kaum erwarten konnte, das Holz unter ihren Füßen zu spüren.
"Ja klar, wenn es dir nichts ausmacht, dass ich meine Schuhe anbehalte", sagte Wulfgar und grinste sie an. Elea starrte ihn einen Augenblick lang perplex an, dann fing sie an zu kichern, sie konnte einfach nicht anders. Wahrscheinlich lag es an ihrem emotionalen Zusammenbruch, den sie vorher gehabt hatte, oder an den futuristischen Schienen, die aus Wulfgars Hosenbeinen ragten, jedenfalls blubberte das Lachen in ihr hoch und bahnte sich seinen Weg, bis sie sich keuchend zu Boden sinken ließ und die Tränen vom Gesicht wischte. Lachtränen, keine Tränen des Schmerzes. Es war das befreiendste Lachen seit Ewigkeiten und hinterher saß sie mit einem breiten Grinsen auf dem Boden und fühlte sich beschwipst, während Thor ihr das Gesicht leckte.
Wulfgar sah sie mit einem Blick an, in dem so viele Emotionen lagen, dass Elea ganz warm ums Herz wurde. Er ging in die angrenzende Küche und kam mit einer Flasche, zwei Gläsern und einem gefährlich aussehenden Messer zurück.
"Was ist das?" fragte Elea neugierig, die immer noch auf dem Boden saß und Thor umarmte, der wie ein nordischer Gott über sie wachte.
"Champagner."
Wulfgar stellte die Gläser auf dem großen Esstisch ab, an dem eine ganze Rugbymannschaft Platz gefunden hätte, und drehte sich zu Elea um, die Champagnerflasche in der einen Hand und das Messer in der anderen.
"Oh!" hauchte Elea überrascht und starrte die Flasche und das Messer an.
"Köpfst du die Flasche jetzt?" fragte sie neugierig, weil sie das einmal in einem Film gesehen hatte. Ganz wohl war ihr nicht bei diesem Gedanken, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass dabei keine Glassplitter im Champagner landeten.
"Köpfen ist was für Dilettanten", meinte Wulfgar selbstgefällig und dann schlug er den Messerrücken mit einer gekonnten Bewegung von unten gegen den Sektkorken, nachdem er die Agraffe entfernt hatte. Nach nur drei gefühlvollen Schlägen schoss der Korken wie von Zauberhand mit einem lauten Ploppen aus dem Flaschenhals.
Elea lachte wieder und klatschte laut Beifall, während Wulfgar den Champagner in die Gläser goss. Dann reichte er ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
"Lass uns anstoßen", forderte er sie auf und hielt Elea eines der Gläser hin, das sie vorsichtig nahm.
"Auf was stoßen wir denn an?"
"Auf das Leben. Auf das Leben, das gelebt werden will", sagte Wulfgar und Elea konnte spüren, dass es ihm damit ernst war.
"Auf das Leben, das gelebt werden will", bekräftigte sie aus tiefster Überzeugung, stieß mit Wulfgar an und nahm einen Schluck vom Champagner, der ganz ausgezeichnet schmeckte und nichts mit dem Sekt gemein hatte, den man im Supermarkt kaufen konnte.
"Hmm", machte Elea, aber bevor sie weiterreden konnte, zog Wulfgar sie an sich und küsste sie sanft auf den Mund. Es war ein federleichter und unaufdringlicher Kuss, in keiner Weise fordernd aber dennoch voller Gefühl und Hingabe.
Nicht, wollte Elea abwehren, dazu bin ich noch nicht bereit, aber stattdessen floss sie wieder in Wulfgars Umarmung und saugte seine Nähe und seine Wärme mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele auf.
Wulfgar versuchte nicht, den Kuss zu vertiefen, sondern gab sie wieder frei, viel zu schnell, wie Elea fand, die von dieser Nähe nicht genug bekommen konnte.
"Das war ein durchaus würdiger Toast auf das Leben", meinte Wulfgar mit einem leisen Lächeln und streichelte ihr zärtlich die Wange.
"Ja, das war es", erwiderte Elea und meinte es auch so.
"Komm, ich koche uns was. Du kannst dich ja an die Theke setzen und mir dabei zugucken. Und reden, wenn du magst."

Kurz darauf saß Elea barfuß auf dem Barhocker vor der Theke und beobachtete Wulfgar dabei, wie er Gemüse und andere Zutaten schnitt, ein Geschirrtuch lässig über die Schulter geworfen.
Der Champagner und Wulfgars Nähe waren ihr ein bisschen zu Kopf gestiegen und bevor ihr so richtig bewusst wurde, was sie da tat, war sie schon mitten in der Geschichte.
"Meine Mutter hatte fünf Kinder von mindestens drei verschiedenen Männern und war damit komplett überfordert. Damit und mit dem Leben im Allgemeinen."
Elea nippte an ihrem Champagner und streichelte Thor den Kopf, der neben ihr saß und immer noch über sie wachte.
"Ehrlich gesagt kann ich mich weder an meine Mutter, noch an meinen Vater erinnern. Und auch nicht an meine Geschwister. Ich war erst ein paar Jahre alt, als mich das Jugendamt aus meiner Familie geholt und mich von meiner Mutter und meinen Geschwistern getrennt hat."
Elea dachte an ihre Kindheit zurück, aber sie hatte nicht viele Erinnerungen, die an die Zeit vor ihrer Einschulung zurückreichten, und die Zeit danach war eine Abfolge von Pflegefamilien gewesen, ein Herumgereiche und Weitergereiche, das es ihr unmöglich gemacht hatte, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
Sie seufzte, was dazu führte, dass Wulfgar zur Theke kam und ihr einen weiteren sanften Kuss auf die Lippen drückte, bevor er sich wieder der Essenzubereitung zuwandte.
"Um es kurz zu machen, es war ein großes Herumgereiche und ziemlich schwierig. Das hat dazu geführt, dass ich auch ziemlich schwierig wurde und schließlich bin ich in ein Kinderheim gekommen, da war ich schon vierzehn."
"Und, war es schlimm?" fragte Wulfgar und tat irgendetwas in eine Pfanne, was fantastisch duftete.
"Eigentlich nicht. Eigentlich war es meine Rettung. Weil ich dort Markus begegnet bin. Markus und ich, wir waren vom ersten Augenblick an zusammen. Wir haben zueinander gehört, wir waren füreinander bestimmt, daran haben wir keinen Augenblick gezweifelt."
Elea dachte an ihr erstes Zusammentreffen mit Markus zurück und zum ersten Mal musste sie lächeln und nicht weinen.
"Alles das, was ich in meinem Leben immer vermisst hatte, alles das, was anscheinend für mich unerreichbar war, war auf einmal da."
Sie lächelte wieder und als Wulfgar zur Theke kam, um ihr Sektglas wieder aufzufüllen, hob sie das Glas.
"Auf dich, Markus, du hast mich gerettet und jeder Tag mit dir war wundervoll."
Auch Wulfgar hob sein Glas.
"Auf dich Markus, weil du Elea gerettet hast, den wundervollsten Menschen auf der Welt. Ich werde dir immer dankbar sein."
Dann küsste er sie wieder und diesmal ließ Elea zu, dass er den Kuss vertiefte. Wulfgar küsste sie ganz vorsichtig und mit einer Sanftheit, die für einen so großen und starken Mann überraschend war.
"Markus und ich, wir haben uns geschworen, in unserem Leben alles anders zu machen. Wir haben uns geschworen, für immer zusammen zu bleiben."
Elea dachte an die Jahre mit Markus zurück, wie sie sich gegenseitig Halt gegeben hatten, wie sie beide die Schule abgeschlossen und dann eine Lehre gemacht hatten. Wie sie beide endlich volljährig waren und aus der staatlichen Obhut entlassen wurden. Sie dachte an ihre erste, winzige Wohnung und die Innigkeit und Liebe zwischen ihr und Markus. An die Pläne für die Zukunft und das Gefühl der Hoffnung, das sie beide erfüllt hatte.
"Gemeinsam haben wir es geschafft, uns aus dem Teufelskreis zu befreien. Wir haben beide einen Beruf erlernt und eine Arbeit gefunden. Wir sind zusammengezogen und dann haben wir geheiratet. Und dann ist Joel auf die Welt gekommen."
Elea holte zittrig Luft, von ihren Gefühlen überwältigt. Aber es waren schöne Gefühle, wundervolle Gefühle, genauso schön und wundervoll wie die Erinnerungen.
"Komm, lass uns etwas essen. Dann erzählst du mir den schwierigen Teil der Geschichte."
Wulfgar nahm ein Tablett, auf dem Teller und Schüsseln standen, und trug es zu dem großen Tisch.
Elea ließ sich auf die gepolsterte Bank sinken und stellte ihre Füßen auf Thors Rücken, der sich unter den Tisch gelegt hatte. Er fühlte sich wie ein warmer weicher Flokati-Teppich an und Elea vergrub ihre Zehen in seinem Fell, während sie sich auf das Essen konzentrierte, das Wulfgar ihr hingestellt hatte. Er hatte Recht gehabt, sie war tatsächlich unglaublich hungrig und das Fleisch war so zart, die Kartoffeln waren so knusprig und das Gemüse war so köstlich, dass Elea nicht protestierte, als Wulfgar ihr einen großzügigen Nachschlag auf den Teller häufte.
"Ich mag es, wie du isst. Als ob es eine überaus ernste Angelegenheit wäre, fast schon eine Frage des Überlebens."
Elea blickte auf und schob ihren Teller zur Seite.
"Das ist es auch, eine Frage des Überlebens, das habe ich lernen müssen."
Wulfgar griff über den Tisch nach ihrer Hand.
"Willst du mir erzählen, was dann passiert ist, nachdem Joel auf die Welt gekommen ist?"
Elea holte tief Luft. Wollte sie das? Sie horchte in sich und stellte überrascht fest, dass sie es unbedingt wollte. Dass die Geschichte unter der Oberfläche brodelte und unbedingt erzählt werden wollte. Also verschränkte sie ihre Finger fest mit Wulfgars Fingern, schloss kurz die Augen und fuhr dann fort:
"An einem Samstagnachmittag im Frühling sind Markus und ich von einem Ausflug mit Joel nach Hause gefahren. Wir waren im Wald gewesen, wo Joel alles angefasst und praktisch alles in den Mund gesteckt hatte."
Elea lächelte wieder. Ihr wundervoller kleiner Sohn! Wie er auf seinen kurzen Beinchen über den Waldweg gewackelt war, voller Stolz, endlich selbst laufen zu können! Die Wangen rot von der frischen und noch kühlen Frühlingsluft. Ein glückliches Kind. Er war ein glückliches Kind und das war ein glücklicher Tag in Eleas Leben gewesen.
"Er war ein glückliches Kind", sagte Elea zu Wulfgar und spürte, wie Sehnsucht nach ihrem Sohn ihr Herz erfüllte.
"Ich bin mir sicher, er war das glücklichste Kind auf der Welt", stimmte Wulfgar ihr zu und streichelte sanft ihre Hand.
"Auf dem Nachhauseweg ist dann der Unfall passiert. Ein anderes Fahrzeug hat uns gerammt, es ist mit voller Wucht in die Fahrerseite gekracht. Markus und Joel, der in seinem Kindersitz hinter dem Fahrersitz saß, waren sofort tot. Ich saß auf der Beifahrerseite auf dem Rücksitz und habe überlebt."
Sie dachte an diesen Moment zurück, diesen Augenblick, als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war und in die Gesichter der Rettungskräfte geblickt hatte, als sie den großen Leichensack gesehen hatte und dann den kleinen Leichensack. Wie sie angefangen hatte, nach Markus und Joel zur rufen, wie sie geschrien, geweint und getobt hatte, bis der Notarzt sie ruhig gestellt hatte.
"Es tut mir leid."
"Ist ja nicht deine Schuld", beruhigte Elea ihn und stellte verwundert fest, dass der Schmerz noch da war, aber nicht mehr überwältigend, sondern erträglich. Beherrschbar.
"Ein Wagen hatte die Vorfahrt missachtet, aber der Fahrer hat Fahrerflucht begangen. Der Schuldige wurde nie gefunden und nach einer Weile hat die Polizei den Fall zu den Akten gelegt."
Sie konnte spüren, dass Wulfgar kurz zuckte, aber dann beugte er sich nur nach vorne, um erneut ihre Wange zu streicheln.
"Wie lange ist das her?"
"Ungefähr fünf Jahre. Ich bin danach in ein großes schwarzes Loch gefallen. Ich habe keinen Sinn mehr im Leben gesehen ohne Markus und Joel. Ich wollte nicht mehr hier sein, zurückgeblieben, zurückgelassen, von ihnen beiden getrennt."
Elea seufzte wieder, als sie an die dunkle Zeit in ihrem Leben dachte.
"Komm", sagte Wulfgar und reichte ihr die Hand, um sie zu dem großen Sofa zu führen. Er setzte sich und zog Elea in seine Arme, die sich tief in seine Umarmung schmiegte und ihre Füße wieder auf Thors Rücken stellte, der ihnen gefolgt war und sich anscheinend für ihren selbsternannten Wächter hielt. Elea hatte nichts dagegen, solange sie ihn als Teppich und Fußwärmer benutzen konnte. So war sie komplett von Wärme umgeben und konnte ihre Geschichte zu Ende erzählen.
"Ich wurde in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen."
Sie schauderte, als sie an die unsäglichen Psychiater und die Medikamente dachte.
"Wie hast du es geschafft, da wieder heraus zu kommen?"
"Ich weiß nicht, aber eines Tage habe ich plötzlich gemerkt, dass mich die ganzen Medikamente betäuben und dass ich mich nicht mehr richtig an Markus und Joel erinnern kann, wenn ich betäubt bin. Und da wurde mir bewusst, dass es für mich sehr wohl einen Grund zum Weiterleben gibt, nämlich meine Erinnerungen. Glückliche, wunderschöne Erinnerungen."
Tatsächlich war es ihr leicht gefallen, die Psychiater in die Irre zu führen, nachdem sie erkannt hatte, dass sie unbedingt aus der Psychiatrie heraus musste. Sie hatte ihr ganzes Leben lang in Pflegefamilien und Heimen verbracht und war dabei unzählige Male von Sozialpädagogen und Psychologen begutachtet worden. Und wusste deshalb ganz genau, was sie hören wollten und was sie von ihr erwarteten.
"Ich habe sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen."
Wulfgar zog sie noch enger an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Haare.
"Meine tapfere Elea. Ich habe sofort gesehen, dass du eine Kämpferin bist!"
Nachdem sie beide eine Weile lang schweigend die Nähe des anderen genossen hatten, sagte Wulfgar:
"Danke, dass du mir deine Geschichte erzählt hast. Aber das war vor fünf Jahren und nicht der Grund für deinen emotionalen Zusammenbruch auf dem Parkplatz vorhin, oder?"
In Wulfgars Umarmung, die sie wie ein schützender Kokon umgab, die Füße auf Thors Rücken, der hingebungsvoll über sie wachte, fühlte Elea sich sicher. Sicher genug, um Wulfgar auch den Rest der Geschichte zu erzählen, den Teil, mit dem sie bisher mit niemandem gesprochen hatte.
"Das war wegen dem seltsamen Mann."
Sie konnte spüren, wie Wulfgar sich versteifte, und seine Anspannung war fast greifbar.
"Welcher Mann?" fragte er und in seiner Stimme lag eine Drohung, eine deutliche Drohung, die gegen alle gerichtet war, die Elea etwas zuleide tun wollten. Also fasst Elea Mut und erzählte weiter.
"Nach dem Unfall auf der Beerdigung von Markus und Joel habe ich einen seltsamen Mann gesehen. Die Beerdigung war in kleinem Rahmen, denn Markus und ich hatten keine Familie und auch nicht viele Freunde, wir waren uns selbst genug. Da habe ich den fremden Mann bemerkt, der die Beerdigung beobachtet hat. Als er gemerkt hat, dass ich ihn gesehen habe, ist er verschwunden, aber später habe ich gesehen, dass er sich hinter einem Baum versteckt hatte, um die Beerdigung weiter unbemerkt beobachten zu können. Aber ich war so außer mir, dass ich diesem Vorfall keine Bedeutung beigemessen habe. Bis ich den Mann wiedergesehen habe, an dem Tag, an dem ich aus der Psychiatrie entlassen wurde. Er saß in einem Café auf der anderen Straßenseite und beobachtete den Eingang der Psychiatrischen Klinik. Später habe ich ihn dann vor meiner damaligen Wohnung gesehen. Ich kann nicht genau beschreiben, warum er mir aufgefallen ist, aber irgendetwas hat nicht gestimmt. Irgendetwas war komisch an der Art, wie er mich angesehen hat und wie er erschrocken ist, als er bemerkt hat, dass ich ihn gesehen habe."
Elea hielt kurz inne, wieder von dem Gefühl der Bedrohung übermannt, das sie damals empfunden hatte.
"Er war einer der Gründe, warum ich weg bin, in eine weit entfernte Stadt, um mit meinem alten Leben abzuschließen. Weg von der Psychiatrie, weg von den Orten, an denen ich glücklich war, und weg von dem seltsamen Mann."
"Das klingt wirklich beunruhigend. Hast du mit niemandem darüber gesprochen?"
Wulfgar wiegte sie in seinen Armen sanft hin und her, fast so, als ob sie ein kleines Kind wäre, aber die Wirkung auf Elea war ungemein beruhigend.
"Mit wem hätte ich denn reden sollen? Ich war komplett durch den Wind und niemand hätte mir geglaubt."
Wulfgar schwieg kurz. Dann sagte er mit einer Stimme, die vor unterdrückter Wut ganz angespannt klang:
"Du hast diesen Mann wiedergesehen, er verfolgt dich!"
"Ja und nein. Ich habe ihn im Stadion gesehen, als ich mir gestern das Spiel angesehen habe. Aber er kann mich nicht verfolgt haben, niemand weiß, wo ich jetzt lebe."
Wulfgar löste die Umarmung und schob Elea ein Stück weg, sodass er sie ansehen konnte.
"Du glaubst also, es gab einen anderen Grund, warum er im Stadion war?" fragte er und sie konnte seine Anspannung spüren.
"Ja, das glaube ich. Hast du deine Beine auch bei einem Unfall verloren?"
"Ja."
"Mit Fahrerflucht?"
"Ja."
Wulfgar bekam einen harten Zug um den Mund, als er die Bedeutung von Eleas Schlussfolgerung erkannte.
"Wann ist dein Unfall passiert, Elea?"
"Am 12. April."
Wulfgar wurde kalkweiß.
"Meiner auch."
"Das kann kein Zufall sein", sagte Elea und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog und ihr der kalte Schweiß ausbrach. Sofort zog Wulfgar Elea wieder in eine enge Umarmung.
"Nur die Ruhe, wir klären das, versprochen", sagte er und dann zog er sein Handy aus der Tasche und machte einen Anruf.
"Heimdall? Kannst du mal zu mir rüber kommen? Es ist dringend, wirklich dringend, ich brauche dich jetzt sofort. Und bring Thorsten mit."
"Wer ist Thorsten?" fragte Elea und ihr Herz raste, während sie sich an Wulfgars Hand klammerte.
"Heimdalls Mann, er ist bei der Kriminalpolizei."

Keine zwei Minuten später ging die Wohnungstür auf und zwei Männer traten ins Wohnzimmer. Der eine war ganz eindeutig Wulfgars Bruder, er hatte die gleiche Statur, die gleichen Augen und das gleiche kantige Kinn. Der andere Mann war etwas kleiner, aber nicht weniger athletisch, mit dunklen, fast schwarzen Haaren und musste Thorsten sein.
"Was ist los?" fragte Heimdall ohne Umschweife.
"Elea hat etwas herausgefunden, das mit meinem Unfall zu tun haben könnte. Und mit ihrem Unfall."
"Ok", sagte Heimdall und setzte sich auf das Sofa neben Thorsten, der Elea aus seinen stahlblauen Augen mit einer Aufmerksamkeit musterte, die fast unangenehm war.
"Es kann aber auch nur ein Zufall sein", wiegelte Elea ab, die sich von der Situation zunehmend überfordert fühlte.
"Erzähl doch einfach, was passiert ist", forderte Thorsten sie mit überraschend sanfter Stimme auf und Elea beruhigte sich ein bisschen. Sie fasste sich ein Herz, atmete einmal tief durch und erzählte dann die ganze Geschichte.
"Beide Unfälle sind also am gleichen Tag passiert. Bei beiden Unfällen wurde das Fahrzeug in die Fahrerseite gerammt. Und bei beiden Unfällen haben die Fahrer Fahrerflucht begangen. Die Unfälle sind vor sieben und vor fünf Jahren passiert, in zwei Städten, die weit auseinander liegen. Elea wurde von einem unbekannten Mann beobachtet, der dann plötzlich in der Sporthalle auftaucht und Wulfgar beobachtet. Das sind schon ziemlich viele Zufälle auf einmal", fasste Thorsten die Sachlage zusammen.
"Ich hol mal meinen Laptop und schau mir dann die Unfallberichte an."
Er stand auf, küsste Heimdall auf den Mund und verschwand.
"Wie ist denn dein Unfall passiert?" fragte Elea, die Wulfgar in die Küche gefolgt war und Kaffeetassen auf ein Tablett stellte, während er die Kaffeemaschine einschaltete.
"Ich war mit Heimdall im Auto, wir sind vom Rugbytraining gekommen. Und weil Heimdall ein paar Bier getrunken hatte, bin ich gefahren. Es war ein ganz normaler Spätnachmittag, das Wetter war gut, die Sicht auch. Das Auto ist ganz plötzlich von links angeschossen gekommen. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich wurde eingeklemmt und so schwer verletzt, dass meine Beine nicht mehr zu retten waren."
"Es fällt mir schwer zu glauben, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen den Unfällen besteht. Warum sollte jemand so etwas tun?"
Elea fühlte sich elend bei dem Gedanken, dass jemand absichtlich anderen Menschen Leid zufügte.
"Du hast ja keine Ahnung, zu was Menschen alles fähig sind", meinte Thorsten, der mit seinem Laptop wieder aufgetaucht war und sich an den Tisch setzte.
"In der Regel sind es emotionale Beweggründe, Gefühle haben eine große Macht über Personen. Schmerz, Verlust, Zurückweisung, Hass, das Spektrum ist breit."
Sie setzten sich zu viert an den Tisch und tranken Kaffee, während Thorsten Datenbanken durchsuchte. Plötzlich legte Heimdall seine Hand auf Thorstens Arm und fragte:
"Was hast du gefunden?"
Elea hatte keine Ahnung, woher er wusste, dass etwas nicht stimmte, und die große Vertrautheit zwischen den beiden Männern weckte wieder ihre Sehnsucht nach Nähe und Familie.
"Nicht gut", sagte Thorsten nur, zog sein Handy aus der Tasche und rief ein paar Leute an. Er stand dazu auf, entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch und drehte ihnen den Rücken zu, aber Elea konnte trotzdem ein paar Worte verstehen, wie Ermittlungsteam, Interpol und Sondereinsatzkommando. Dann kam er zurück an den Tisch und legte Elea eine Hand auf die Schulter.
"Du hast eine gute Beobachtungsgabe, Elea. Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang. Ich habe in den Datenbanken noch weitere Unfälle gefunden, die nach dem gleichen Muster abgelaufen sind. Der Täter achtet darauf, die Standorte weit zu streuen um zu vermeiden, dass jemand den Zusammenhang herstellt. Und so, wie es aussieht, bist du die einzige, die den Täter gesehen hat. Andere haben ihn vielleicht auch gesehen, aber er ist ihnen nicht aufgefallen."
Elea spürte, wie ihr Mund trocken wurde und ihr Herz wieder zu rasen anfing. Was Thorsten ihr gesagt hatte, machte ihr Angst, und sie konnte nicht verhindern, dass sie anfing zu zittern.
"He, he", sagte Wulfgar leise und zog sie eng an seine Seite, "wir alle passen auf dich auf, versprochen. Wir sorgen dafür, dass dir nichts passiert."
"Ok", murmelte Elea mit schwacher Stimme.
"Tut mir leid, das ist alles ein bisschen viel auf einmal für mich."
"Du musst dich nicht entschuldigen, Elea", beruhigte sie Heimdall und gab ihr einen Kuss auf die Wange, "wir sind große, starke Kerle, an uns kommt so schnell keiner vorbei."
Das brachte Elea zum Lachen.
Das waren sie wirklich. Und Elea mochte sie, alle drei und ganz besonders natürlich Wulfgar. Sie mochte sogar Thor, der zu ihren Füßen lag und sie nicht aus den Augen ließ.
"Wie geht es jetzt weiter?" fragte sie und sah dabei Thorsten an.
"Morgen früh kommst du auf das Revier. Wir machen ein Phantombild und besprechen alles Nötige mit dem Einsatzteam. Und du brauchst Personenschutz. Wir können nicht ausschließen, dass der Mann bemerkt hat, dass du ihn erkannt hast."
"Personenschutz?" fragte Elea mit schwacher Stimme.
"Elea, du bleibst am besten hier bei uns, bis die Angelegenheit geklärt ist. Hier bist du auf jeden Fall sicherer als alleine zu Hause", meinte Wulfgar.
"Ich habe bereits veranlasst, dass drei Teams das Reha-Zentrum beobachten, falls der Mann beschließt, hier aufzutauchen", informierte sie Thorsten und lächelte Elea dann an.
"Du machst das wirklich gut Elea. Jetzt brauche ich noch eine möglichst genaue Täterbeschreibung von dir, damit die Polizisten wissen, nach wem sie Ausschau halten müssen."
Elea beschrieb Thorsten den Mann und war selbst überrascht, wie genau sie sich noch an jedes Detail erinnerte. Es war, als ob sich sein Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt hätte.
Dann redeten sie noch eine Weile und schließlich verabschiedeten sich die beiden Männer, nachdem sie Elea noch einmal umarmt hatten. So viel Wärme und Nähe auf einmal war verwirrend aber auch wunderschön und füllte nach und nach die Leere, die der Schmerz in ihr hinterlassen hatte.
Als sie wieder alleine waren, ließ Elea sich müde auf das Sofa sinken.
"Was für ein Abend", murmelte sie und merkte, wie ihr die Augen zufielen.
"Leg dich auf das Sofa und ruh dich aus, Elea."
Wulfgar streichelte ihr über das Haar und deckte sie mit einer weichen Decke zu, die nach Blumen und nach Frühling roch.
"Ok", murmelte Elea und dann schlief sie ein.

Sie schlief so tief und fest wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr und als Wulfgar sie am nächsten Morgen weckte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war.
"Tut mir leid, dass ich dich wecken muss, aber wir müssen aufs Polizeirevier und ich dachte, du möchtest dich vielleicht vorher duschen und etwas frühstücken."
"Danke, ich brauche wirklich unbedingt eine Dusche", stimmte Elea zu und rieb sich die Augen, "ich muss fürchterlich aussehen."
"Ja, absolut unerträglich, geh mir aus den Augen. Das Bad ist hinten links."
Mit einem Lachen stand Elea auf und berührte im Vorbeigehen kurz Wulfgars Hand. Ihr wurde bewusst, wie wichtig seine Nähe ihr war, und sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Sie würde später darüber nachdenken, jetzt gab es andere Dinge, die wichtiger waren.
Nachdem sie sich geduscht und ihr krausen Haare mit den Fingern gekämmt und einigermaßen in Form gebracht hatte, fühlte sie sich deutlich besser, und nach einem ausgiebigen Frühstück mit Wulfgar war sie bereit für diesen Tag, was auch immer er bringen mochte.
Thorsten wartete bereits mit seinem Ermittlungsteam auf dem Revier auf sie und Elea erstellte zuerst mithilfe einer Polizistin das Phantombild.
"Genau so sieht er aus!" rief sie aus, als das Bild fertig war und war überrascht, wie einfach es gewesen war.
"Hervorragend", lobte Thorsten sie und dann erklärte er ihr, was sie vorhatten.
"Unsere Fahndung nach dem Mann läuft auf Hochtouren, aber wenn er bisher unauffällig war, ist das wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wir hoffen deshalb, dass er nächsten Sonntag wieder zum Spiel kommt. Wir werden auf dem Parkplatz und im Eingangsbereich der Sporthalle verschiedene Kameras installieren und dich zusammen mit jemandem vom SEK in einem Raum positionieren, in den die Kamerabilder übertragen werden. Alles wird wie bei einem ganz normalen Spiel ablaufen, es werden keine Polizisten zu sehen sein, auch wenn sie natürlich da sind. Und dir kann nichts passieren, weil du nicht persönlich in der Sporthalle anwesend sein musst. Das einzige, was du tun musst, ist uns Bescheid zu geben, wenn du ihn siehst. Wir suchen natürlich alle anhand des Phantombilds nach dem Mann, aber du kennst ihn am besten und wir brauchen zur Sicherheit auch dich."
"Ok, das kann ich schaffen", stimmte Elea zu und war froh, dass niemand von ihr erwartete, die Heldin zu spielen. Sie wusste nicht, ob sie es ertragen könnte, dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, der Markus und Joel mit voller Absicht getötet hatte.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Elea nahm sich eine Woche Urlaub, was ihren Chef fast zur Verzweiflung brachte, und fuhr dann mit Wulfgar in ihre Wohnung, um ein paar Sachen einzupacken, die sie mit zu ihm nehmen wollte.
Weil sie es gewohnt war zu arbeiten und weil sie viel zu nervös und unruhig war, um in Wulfgars Wohnung alleine zu bleiben, während er und Heimdall unten im Reha-Zentrum arbeiteten, begleitete sie ihn und fing an, kleine Erledigungen für Dorothea zu machen. Nach zwei Tagen fand sie sich bereits gut im Reha-Zentrum zurecht und stellte fest, dass ihr die Arbeit Spaß machte. Es war schön, mit Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen zu helfen, statt mit Tieren, die in Käfigen steckten.
Und auch die Wohnung mit Wulfgar zu teilen, war absolut unkompliziert, wie alles an Wulfgar. Sie hatte sich ein wenig davor gefürchtet, auch weil sie unsicher war, was Wulfgar von ihr erwartete und ob er überhaupt etwas von ihr erwartete. Aber seine Ruhe und seine gute Laune, die durch nichts getrübt werden konnte, führten dazu, dass Elea sich schnell in seiner Nähe wohlfühlte. Sie berührten sich oft, umarmten sich und hin und wieder küssten sie sich auch, aber ansonsten gab Wulfgar ihr den Raum und die Zeit, die sie brauchte. Er drängte sie zu nichts und es schien ihn nicht zu stören, dass sie weiterhin auf dem Sofa schlief und die Badezimmertür hinter sich abschloss.
Und dann kam der Sonntag.
Bevor sich Wulfgar auf den Weg in die Sporthalle machte, umarmten sie sich noch einmal lange und innig.
"Wir schaffen das, Elea, mach dir keine Sorgen", beruhigte er sie und streichelte ihr wie immer über die Haare.
"Ja, wir schaffen das", stimmte Elea zu und da war es plötzlich, das wir. Die Erkenntnis war ein kleiner Schock und Elea versteifte sich in Wulfgars Armen.
"Was ist?" fragte er und drückte ihr einen Kuss auf die Haare.
"Wir. Du hast wir gesagt."
"Ja. Du auch. Wir. Wir beide zusammen."
Er beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen, und diesmal war es ein richtiger Kuss, auf den Elea sich ohne nachzudenken einließ. Als Wulfgar den Kuss beendete, waren sie beide etwas atemlos.
"Bis nachher, Elea", verabschiedete Wulfgar sich von ihr und in seinem Blick lag ein Versprechen, das dazu führte, dass Elea die Hitze in die Wangen schoss.
"Bis nachher, Wulfgar", erwiderte Elea und sah ihm hinterher, wie er auf seinen Schienen die Treppe hinunterging und dabei immer mehrere Stufen auf einmal nahm.
Dann kam Thorsten und brachte sie zur Sporthalle in den Beobachtungsraum, in dem die Bildschirme aufgebaut waren, auf die die Kamerabilder übertragen wurden. Es war ein kleiner, unbenutzter Umkleideraum und der SEK-Beamte in voller Kampfmontur sorgte zusammen mit Thor dafür, dass Elea ihre Nervosität in den Griff bekam und etwas ruhiger wurde.
"Das sind so viele Bildschirme, die kann ich nicht alle gleichzeitig im Blick behalten", sagte sie zweifelnd zu dem SEK-Beamten.
"Das brauchen Sie auch nicht, schauen Sie sich einfach die Bildschirme nacheinander kurz an, von links nach rechts. Dann fangen Sie wieder von vorne an. Es sind verschiedene Kameraeinstellungen und der Mann wird deshalb von mehreren Kameras erfasst werden, sollte er hier auftauchen."
"Ah, ok", erwiderte Elea erleichtert und setzte sich dann auf den Stuhl vor den Bildschirmen, um den Blick hochkonzentriert über die Bildschirme wandern zu lassen. Sie wollte sich diesen Mann auf keinen Fall entgehen lassen, er musste gefasst werden, auch um zu verhindern, dass er noch mehr Menschen tötete oder verletzte.
Nach einer Weile begannen ihre Augen zu brennen, aber sie unterbrach ihre Beobachtung nicht, sondern blinzelte nur hin und wieder, um das Brennen etwas zu lindern.
Und dann sah sie ihn. Er stieg aus einem großen SUV mit einem außergewöhnlich stabilen Frontbügel und ging dann direkt zum Eingang der Sporthalle, ohne sich umzublicken. Er trug eine Baseball-Cap und hielt den Kopf leicht gesenkt, aber aufgrund der verschiedenen Aufnahmewinkel der versteckten Kameras konnte sie sein Gesicht deutlich erkennen.
"Das ist er!" rief sie aus und deutete auf den Mann.
Der SEK-Beamte nickte und sie hörte, wie er in sein Funkgerät sprach.
"Ja, die Augenzeugin hat die Identität soeben bestätigt. Zugriff freigegeben."
Elea konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden. Zwei Männer in Zivil näherten sich dem Mann jetzt von hinten und obwohl sie sich absolut unauffällig verhielten, schien der Mann sie instinktiv zu spüren, den plötzlich drehte er sich um, musterte die Menschen, die jetzt immer zahlreicher in die Sporthalle strömten, und rannte dann los in Richtung seines Fahrzeugs. Er kam allerdings nur ein paar Schritte weit und wurde dann von einem weiteren Mann zu Boden geworfen, der sich von der anderen Seite genähert hatte. Es gab einen kleinen Tumult, als einige Besucher der Sportveranstaltung versuchen wollten, dem Mann am Boden zu helfen, aber dann waren die Männer vom SEK da und der Tumult legte sich, als offensichtlich wurde, dass es sich um einen Polizeieinsatz handelte.
Elea konnte es nicht fassen, dass sie den Mann festgenommen hatten, und brach in Tränen aus.
"Danke, danke, danke", flüsterte sie immer wieder und umarmte den SEK-Beamten, der ihr freundlich auf den Rücken klopfte.
"Das ist ganz alleine Ihr Verdienst", versicherte er Elea und drückte ihr noch einmal freundlich die Schulter, als sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken ließ.
Auf einmal fühlte sie sich müde und ausgelaugt von der Ereignissen und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie umarmte Thor und fragte sich, wie es jetzt weitergehen sollte. Wie es jetzt weitergehen würde. Aber ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen, denn nur wenige Minuten später kam Wulfgar durch die Tür. Da er in seinem Sportrollstuhl saß, war es diesmal Elea, die auf ihn hinunterblickte, und eine Welle der Zuneigung stieg in ihr auf, als sie seinen liebevollen Blick sah. Er zog sie ohne große Umschweife auf seinen Schoß und küsste sie.
Dann setzte er seinen Rollstuhl mit kraftvollen Stößen in Bewegung, ganz so, als ob Elea nichts wiegen würde, und rollte mit ihr auf dem Schoß zum Spielfeldrand, wo sie beiden mit Gelächter und Gejohle von der Mannschaft begrüßt wurde.
Die Begeisterung der Spieler war wirklich mitreißend und Elea musste lachen.
"Hallo Jungs", sagte sie deshalb, "wo ich schon einmal hier bin, will ich jetzt aber auch einen Sieg sehen. Also gebt alles."
"Für Elea!" rief einer der Spieler und hob einen Arm.
"Für Elea!" riefen die anderen und dann klatschten sie sich mit einem seltsamen Ritual ab und das Spiel begann.
Elea befreite sich aus Wulfgars Umarmung und setzte sich zusammen mit Thor auf eine kleine Holzbank am Spielfeldrand, um das Spiel und Wulfgar nicht zu stören. Sie feuerte ihre Mannschaft an, auch wenn sie keine Ahnung von den Spielregeln hatte, und vergaß für einen Augenblick die Ereignisse der vergangenen Tage und der vergangenen Jahre. Am Ende des Spiels glühten ihre Wangen und sie war von einem Gefühl erfüllt, das sie zuerst nicht einordnen konnte, bis ihr plötzlich klar wurde, dass sie glücklich war. Und es fühlte sich nicht nur gut an, sondern auch richtig.
Heimdall kam dazu und wirbelte sie herum, bis ihr schwindelig wurde, und dann war auch Wulfgar wieder da, der seinen Rollstuhl wieder gegen seine Alienbeine eingetauscht hatte. Gemeinsam gingen sie in das Pub neben der Sporthalle und bestellten Pommes und Bier, um den Doppelsieg zu feiern.
Später rief Thorsten an und berichtete, dass die Polizei in der Wohnung des Mannes detaillierte Aufzeichnungen und zahllose Fotos der Unfallopfer gefunden hatte, die der Mann selbst als Vergeltungsaktionen bezeichnete. Wulfgar war das erste Opfer gewesen und danach hatte er jedes Jahr eine seiner Vergeltungsaktionen geplant und durchgeführt, immer am Todestag seiner Frau, die bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war. Anscheinend konnte er seinen Schmerz über den Verlust seiner Frau nur ertragen, wenn er ihn mit anderen teilte, und das bedeutete für ihn, dass er anderen den gleichen Schmerz zufügte und sie dann in ihrer Trauer beobachtete. Den Tod des kleinen Joel hatte er als würdiges Opfer für seine Frau bezeichnet. Elea war zutiefst erschüttert und unendlich dankbar, dass es keine weiteren Opfer geben würde.

An diesem Abend legte sich Elea nicht wie jeden Abend auf das Sofa, sondern ging zu Wulfgar ins Schlafzimmer und kroch zu ihm unter die Decke. Es war ein großes Bett und unter der Decke war es warm und kuschelig. Mit einem Seufzer schmiegte sie sich an Wulfgar.
"Da bist du ja", murmelte Wulfgar heiser und zog sie in seine Arme.
"Ja, da bin ich", gab Elea zurück und als sie seine nackte, warme Haut auf ihrer Haut spürte, kam ganz plötzlich das Verlangen zurück. Es durchflutete sie in heißen Wellen und nur Wulfgar konnte es stillen, mit seinen Händen, seine Küssen, seinen Lippen, seinen Worten, seiner Liebe. Es fühlte sich wundervoll an, von ihm geliebt zu werden, er war einfühlsam und sanft und zugleich von einer Wildheit, die Eleas Herz schneller schlagen ließ und ihr das Gefühl gab, die begehrenswerteste und schönste Frau auf der Welt zu sein. Natürlich war Wulfgar nicht Markus, äußerlich gab es keinerlei Ähnlichkeiten zwischen ihnen, aber er besaß die gleiche Herzenswärme wie Markus und Elea begriff in diesem Augenblick, als sie in seinen Armen lag und eins mit ihm wurde, dass das Leben ihr eine zweite Liebe geschenkt hatte. Eine zweite Liebe, die komplett anders war als ihre erste Liebe, die sie aber genauso erfüllte und berührte.
"Ich liebe dich, Wulfgar", flüsterte sie ein wenig verwundert und ein wenig ungläubig.
Wulfgar hielt inne, stützte sich ab und blicke ihr tief in die Augen. Seine langen blonden Haare fielen in wilden Wellen um sein Gesicht und seine Schönheit und Wildheit nahm Elea den Atem.
"Und das ist gut so, denn ich liebe dich auch, Elea, und ich habe nicht vor, dich jemals wieder gehen zu lassen."
Und dann zeigte er ihr, was es bedeutete, von einem Mann wie ihm geliebt zu werden.

Ein paar Monate später stand Elea mit Wulfgar auf dem Friedhof am Grab von Markus und Joel. Der Winter hatte Einzug gehalten und der erste Schnee hatte dem Friedhof seine Trostlosigkeit genommen und ihn in einen stillen und besinnlichen Ort verwandelt.
Elea hatte Baba mitgebracht und setzte ihn jetzt auf Joels Grab.
"Bist du dir sicher, dass du ihn zurückgeben möchtest?" fragte Wulfgar, der ihre Hand hielt.
"Ja, ich brauche Baba nicht mehr. Ich weiß jetzt, dass die schönen Erinnerungen nicht verloren gehen. Niemals. Und dass in meinem Herzen genug Platz ist für viele neue schöne Erinnerungen."
Sie lächelte Wulfgar an.
"Du hättest Joel gemocht. Und Markus."
"Ja, das hätte ich", erwiderte Wulfgar und lächelte zurück.
"Sie hätten dich auch gemocht."
"Bestimmt. Wir lieben die gleiche Frau."
"Und ich liebe euch alle drei."
Sie blieben noch eine Weile still an den Gräbern stehen und gingen dann Hand in Hand zurück zum Auto.

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Über mich

Ich liebe es, neue Welten zu erschaffen, und hoffe, ihr hab genau so viel Freude daran, meine Bücher zu lesen, wie es mir Freude bereitet hat, sie zu schreiben.

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